Der (oft unterschätzte) sozio-linguistische Einfluss auf Grammatikalisierung. Oder Was man in der Linguistik "tut" und was man nicht "am tun" ist ?
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Zitationsvorschlag

Der (oft unterschätzte) sozio-linguistische Einfluss auf Grammatikalisierung. Oder Was man in der Linguistik "tut" und was man nicht "am tun" ist ?. (2017). JournaLIPP, 5, 71-85. https://doi.org/10.5282/journalipp/4858

Abstract

Es ist verwunderlich, dass das Bedeutungsspektrum des Verbs tun äußerst facettenreich ist und dennoch in der Schriftsprache verhältnismäßig selten zum Einsatz kommt. Als Vollverb hat tun eine ausgeprägte handlungsbezogene Semantik und betont die Ganzheit der im Präkontext genannten Verbhandlung, wie etwa Egon hat alles getan (, was man ihm gesagt hat). Auch als Auxiliar ist die Distribution von tun im Standarddeutschen sehr nuanciert. So kann man die Verbtopikalisierung von tun-Phrasen erzeugen und eine besondere Proposition erlangen (Schnarchen tut Egon schon sehr laut.). Dennoch gelten diese und weitere Beispiele des Verbs tun nur als gemäßigt „standarddeutschtauglich“ (Duden 2001:835). Warum ist dies so?

Ähnlich verwunderlich ist auch der Gebrauch des am-Progressivs (die sog. Verlaufsform) nach dem Muster seinFinitum+am+VInf. Sätze wie Egon ist am lernen oder Egon war gerade ein Buch am lesen, als es an der Tür klingelte ermöglichen die aspektaffine Perspektivierung einer imperfektiven Verbalsituation und eröffnen somit dem Standarddeutschen (StD) den Bereich der verbalen Aspektualität, die als eine kognitive Domäne oder Funktion zu verstehen ist, welche die zeitliche Kodierung von Verbsituationen als abgeschlossen oder unabgeschlossen perspektiviert (Comrie 1976: 3; Leiss 1992: 45; Glück 2000: 67). Es konnte bisher in der Aspektforschung nachgewiesen werden, dass die am-Progressive ein fester Bestandteil des deutschen Diasystems sind, dass sie sowohl in kolloquialen wie auch in manchen offiziellen Medien (Literatur, Medien) präsent sind und immer als morphologische Ausdrucksmittel zur Verbalisierung von Aspektualität verwendet werden. Dennoch ist auch ihre Anwendung im schriftsprachlichen Sprachgebrauch stark sanktioniert und durch die normativen Regelwerke ausgeschlossen (Elspass 2005: 34).

Dieser Artikel nähert sich diesen zwei morpho-syntaktischen Phänomenen aus der Perspektive der Sprachinselforschung aus dem Pennsylvaniadeutschen (PeD). In der Sprachinselforschung fehlen oft normative Standards, sodass eine Koexistenz von unterschiedlichen grammatischen Parallelformen und eine deskriptive Sprachnorm begünstigt werden. In der vorliegenden Arbeit sollten also diese konkreten Fragestellungen zum Gebrauch, zur Akzeptanz und zur morpho-syntaktischen Ausbaufähigkeit dieser grammatischen Formen im Standarddeutschen und Pennsylvaniadeutschen eruiert werden. Durch eine gezielte Erhebung von Informationen mittels eines morpho-syntaktisch kodierten Fragebogens im Pennsylvaniadeutschen kann man die grammatischen Tendenzen und den Entwicklungsstand dieser beiden grammatischen Phänomene näher definieren und meine Annahme  stützen, dass es im Pennsylvaniadeutschen einen höheren Akzeptanzwert und geringeren Restriktionsradius dieser oben beschriebenen grammatischen Formen gibt. Im Folgenden werden daher zunächst einige Parameter der Soziolinguistik gezeigt, welche Einfluss auf Grammatikalisierung haben können. Weiterhin werden Beispiele von tun-Phrasen und am-Progressiven und ihr Restriktionsradius kontrastiv zum Standarddeutschen dargestellt. Abschließend folgt eine Einschätzung über das Grammatikalisierungsstadium dieser Phänomene.

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